
Die Sakralität der Person
Hans Joas
Suhrkamp, Berlin, 2011
Door Britta Böhler, Politikerin, Anwältin, Professor Rechtsanwalt (Universität von Amsterdam)
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Jeder, er sich mit Menschenrechten beschäftigt, wird sich früher oder später die Frage stellen müssen, wie die Entstehung dieser Rechte begründet werden kann. Und er wird feststellen, dass diese Frage nicht leicht zu beantworten ist. Philosophen und Historiker haben sich seit der Entstehung der Menschenrechte mit diesem Thema beschäftigt und verschiedene Erklärungsmodelle entwickelt. Der Meinungsstreit orientiert sich bislang hauptsächlich an zwei Strömungen, die den Diskurs über die Begründung der Menschenrechte beherrschen.
Das erste Begründungsmodell geht aus von einer philosophisch-rationalen Erklärung, die die Menschenrechte aus dem Gedanken der Aufklärung herleiten und begründen will: die Entstehung individueller Rechte als Ausdruck des Sieges der Vernunft über Tradition und Religion. Das zweite Begründungsmodell entwirft eine historisch-empirisch geprägte Erklärung, die verweist auf die religiösen Werte der christlich-jüdischen Tradition.
Hans Joas setzt sich in seinem Buch kritisch mit den verschiedenen Varianten beider Erklärungsansätze auseinander und wählt einen anderen, soziologisch-historischen Weg. Ausgangspunkt ist für Joas, dass er ʻan die Möglichkeit rein rationaler Begründung letzter Werte nicht [zu] glaubenʼ vermag. Wie im Titel seines Buches bereits angedeutet, hat Joas sich zum Ziel gesetzt, eine ʻneue Genealogie der Menschenrechteʼ aufzuzeigen. Sich auf den existenziellen Historismus des evangelischen Theologen und Kulturwissenschaftlers Ernst Troeltsch berufend, sieht Joas in seiner vorgestellten Alternative nichts weniger als ʻein Gegenmodell zu Kant und Nietzsche,ʼ aber auch ʻzu Hegel, Marx und Max Weberʼ.
Joas hat sich hiermit keine kleine Aufgabe gestellt und er ist sich dessen auch bewusst. Bereits in der Einleitung wird der Leser daher vor allzu hohen Erwartungen gewarnt. Joas will mit seinem Erklärungsmodell ʻkeine umfassende Ideen- oder Rechtsgeschichteʼ entwerfen und ebenso wenig ʻeine neue philosophische Begründung der Idee universaler Menschenwürde und der auf dieser Idee basierenden Menschenrechteʼ.
Joas’ zentrale These kreist um den Begriff der ʻSakralität der Personʼ. Er bezieht den Gedanken der menschlichen Person als heiliges Objekt von dem französischen Soziologen Emile Durkheim, der dies Ende des 19. Jahrhunderts erstmals formuliert hat. Bei Joas darf der Begriff der Sakralität indes nicht so verstanden werden, ʻals habe er ausschliesslich eine religiöse Bedeutungʼ. Auch säkulare Gehalte können, so Joas, heilig sein, und hierfür sind zwei Qualitäten notwendig: subjektive Evidenz und affektive Intensität. Für Joas ist die Entstehung der Menschenrechte (und die Idee der Universalität dieser Rechte) das Ergebnis eines Prozesses, den er als ʻSakralisierung der Personʼ beschreibt. Die menschliche Person wird im Verlaufe dieser Entwicklung ‘heilig’, und daher unschendbar. Im Recht, das heisst in der formalisierten Festschreibung individueller Rechte, wird das Verständnis der Person als etwas Heiliges institutionalisiert.
Um seine These von der Sakralität der Person als Fundament für die Entstehung der Menschenrechte zu begründen, beginnt Joas mit einer Aufarbeitung von historischen Entwicklungen, die er für exemplarisch hält: das Zustandekommen der ersten Menschenrechtserklärungen in Frankreich und den Vereinigten Staaten (Kapitel 1), die Abschaffung der Folter und der Reform der Strafjustiz in Europa ab dem 18. Jahrhundert (Kapitel 2) und schliesslich ʻdie Bedeutung von Gewalterfahrungen für die Aufrechterhaltung und Verbreitung der Menschenrechteʼ, unter anderem am Beispiel der Antisklavereibewegung in den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert (Kapitel 3).
Danach folgt ein Kapitel ʻmethodischer Selbstreflexionʼ (Kapitel 4) mit einer ausführlichen Darlegung der bereits eingangs erwähnten These, dass es nämlich bei fundamentalen Werten (wie den Menschenrechten) letztlich keine philosophisch-rationale Begründung geben kann. Joas vertritt die Auffassung, dass hierdurch jedoch keineswegs zwingend eine relativistische Sichtweise folgen muss. Werte sind nicht nur ʻsubjektive Setzungen von Individuen oder Kulturenʼ.
Nach dieser methodischen Zwischenbetrachtung verfolgt Joas seine Abhandlung mit einem Blick auf die Grundelemente christlich-jüdischer Tradition und deren Bedeutung für die Entstehung der Menschenrechte (Kapitel 5). Joas untersucht vor allem die Behauptung, dass die christlich-jüdische Wertetradition die Entstehung der Menschenrechte vorbereitet hat und zu ʻihrer Stütze unentbehrlichʼ ist. Joas kommt zu dem Schluss, dass der Einfluss der christlich-jüdischen Werte auf die Entstehung der Menschenrechte nicht überbewertet werden sollte. Denn, so Joas, Menschenrechte sind nicht ʻin eine bestimmte Tradition eingesperrtʼ.
Im abschliessenden Kapitel (Kapitel 6) widmet Joas sich dann der Frage nach der Wertgeneralisierung. Hierbei wird das Konzept der Wertgeneralisierung, das für die Menschenrechte von grundsätzlicher Bedeutung ist, aus der soziologischen Theorie gesellschaftlichen Wandels hergeleitet. An der Enstehungsgeschichte der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 zeigt Joas beispielhaft den erfolgreichen Prozesses der Wertgeneralisierung.
Joas hat mit seinem Buch neue Gesichtspunkte an die Debatte über die Begründung der Menschenrechte hinzugefügt. Das von Joas vorgeschlagene Erklärungsmodell der Sakralisierung der Person bedarf allerdings einiger kritischer Bemerkungen.
Allererst ist der Begriff der Sakralität, trotz Joas’ Versicherung, dass es sich dabei nicht um einen rein religiösen Begriff handeln müsse, unwiderruflich religiös besetzt. Joas kann den Eindruck nicht wegnehmen, dass sich sein Prozess der Sakralisierung in bestehende Erklärungsmodelle einfügen lässt, Modelle, die die Entstehung der Menschenrechte vor allem aus der christlich-jüdischen Tradition heraus begründet sehen wollen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die ausdrückliche Rückbeziehung auf die religiös geprägte Kulturphilosophie von Ernst Troeltsch und die Soziologie von Emile Durkheim.
Ferner stellt sich die Frage, warum die Sakralisierung der Person erst und gerade ab dem 18. Jahrhundert zu der Entstehung fundamentaler Individualrechte geführt hat und nicht, zum Beispiel, schon in der Antike? Auch in der Antike nehmen Verehrung und Verherrlichung (ʻCharismatisierungʼ) des menschliche Körpers einen zentralen Platz ein. Dies hat im antiken Denken jedoch weder zu einem Prozess der Sakralisierung noch zu einer Entwicklung von universalen Rechten geführt.
Darüberhinaus wirft auch Joas’ Darstellung des Sakralisierungsprozesses mit den in diesem Zusammenhang aufgeführten historischen Beispielen zahlreiche Fragen auf.
Wenn man die Abschaffung von Folter und Sklaverei in Europa und den Vereinigten Staaten als Prozess der Sakralisierung begreift, wie verhält sich dies dann zu Gewaltanwendung und Genozid in der Zeit danach? Hat es eine Entsakralisierung gegeben und hat dann, nach dem Zweiten Weltkriegs, wiederum eine Neu-Sakralisierung stattgefunden? Und: wie passt der Körperkult in der nationalsozialistischen Ideologie zu der Idee der Sakralisierung der Person als Basis für die Menschenrechte?
Im Hinblick auf die Abschaffung der Folter lässt Joas zudem ausser acht, dass diese Entwicklung auch damit (mit)begründet werden kann, dass, vor allem nach den Inquisitions- und Hexenprozessen, zunehmend Zweifel aufkamen, ob die Anwendung der Folter als adäquates Mittel zur Wahrheitsfindung angesehen werden kann. Die Abschaffung der Folter in Europa war somit wesentlich verbunden mit Zweifeln an ihrer Effizienz.
Grundsätzlicher ist schliesslich die Frage, inwiefern Joas in der Tat ein neues Erklärungsmodell für die Entstehung der Menschenrechte bietet. Joas beschreibt eine Entwicklung, den er als Prozess der Sakralisierung versteht, aber er erklärt nicht, wie dieser Prozess seinerseits zu begründen ist. Wenn man die Sakralität der Person als Fundament der Menschenrechte ansehen will, stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Begründung der Sakralität. Diese lediglich als geschichtliches Faktum zu präsentieren, genügt nicht. Mit anderen Worten, Joas’ Buch beinhaltet weniger eine Antwort auf die Frage nach der Begründung der Menschenrechte, als vielmehr eine Verschiebung der Fragestellung.